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Titel
Weg vom Fenster. Die Staublunge der Ruhrbergleute zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, betrieblicher Regulierung und gesellschaftlichem Vergessen in der Bundesrepublik


Autor(en)
Trabalski, Daniel
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte
Erschienen
Stuttgart 2023: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Knoll-Jung, Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Bamberg

Die Silikose oder umgangssprachlich Staublunge ist außerhalb von Bergbauregionen den wenigsten Menschen ein Begriff. Selbst dort ist sie nur noch familiengeschichtlich als Todes- und Verrentungsursache längst verstorbener Verwandter im Gedächtnis. Dass dies einmal anders war und wie es letztlich zu dem im Titel genannten Vergessensprozess kam, beschreibt Daniel Trabalski in seiner Dissertation.

Gerade in der frühen Bundesrepublik wurde die Krankheit als soziales, medizinisches und wirtschaftliches Problem immer sichtbarer. Steigender Bedarf an Kohle zur Befeuerung des „Wirtschaftswunders“ sorgte für höhere Fördermengen und tiefere Stollen. Die zunehmende Mechanisierung erhöhte zudem die Staublast unter Tage. Mit dem Wohlstand der Bundesbürger:innen stieg also tief im Steinkohlebergbau des Ruhrgebiets die gesundheitliche Belastung der Bergleute. Vor diesem Hintergrund untersucht Trabalski die „tödlichste Berufskrankheit der Geschichte“ (S. 9). Seine Herangehensweise verbindet zeitgeschichtliche Problemstellungen mit einer dezidierten Wissensgeschichte.

Der Bergbau gehört zu den besterforschten Branchen in der Geschichte der Arbeitswelten, da hier insbesondere für das Ruhrgebiet eine langjährig institutionalisierte Forschungstradition besteht. Zudem sind die Themenkomplexe Gesundheit, soziale Absicherung und Bergbaukatastrophen gut erforscht. Demgegenüber handelt es sich gerade bei Berufskrankheiten und deren Regulierung um ein eher selten beachtetes Metier. Ganz allgemein gelangt die Sozialversicherungspraxis nur selten in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Studien, auch wenn sich Begriffe wie Prävention, Sicherheit und Risiken immer häufiger in einschlägigen Titeln finden.

Trabalski zeigt nun auf geschickte Weise, wie sich dieses Untersuchungsfeld mit einer zielgerichteten Perspektivsetzung erkenntnisreich bearbeiten lässt. Dabei geht er über eine reine „Sozialversicherungsgeschichte“ hinaus zu einer „Geschichte der Wohlfahrtsstaatlichkeit“ (S. 15). Mit ihrem Fokus auf der Bundesrepublik knüpft die Arbeit zeitlich an eine frühere Publikation von Christian Schürmann an, die die Regulierungspraxis bis 1952 untersucht1. Trabalski beleuchtet mit seiner chronologischen Fortsetzung einen für die Entwicklung und „Bekämpfung“ der Silikose sehr wichtigen Zeitraum mit einer Vielfalt an präventiven und kurativen Ansätzen. Er schließt damit eine Forschungslücke auf dem Feld der Berufskrankheiten und zeigt zugleich die gesellschaftliche Bedeutung wissenschaftlichen und sozialstaatlichen Handelns für die Zeitgeschichte der Bundesrepublik.

Als theoretisches Grundgerüst baut Trabalski auf einen bewährten Kanon kulturhistorischer Prägung auf. Er rezipiert den Forschungstand zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael). In Bezug auf Präventionspraktiken ordnet er sich zum „präventiven Selbst“ (Lengwiler/Madarász) ebenso ein wie zur „Biopolitik“ Foucaults und besonders zu Ewalds Studie zum „Vorsorgestaat“, die sich mit der französischen Unfallgesetzgebung als Ausgangspunkt einer Versicherungsgesellschaft beschäftigt. Anders als Ewald sucht Trabalski nicht nach einem weltumstürzenden „philosophischen Wendepunkt“, den dieser im französischen Unfallversicherungsgesetz von 1898 sieht2, sondern zeigt die Genese des Wohlfahrtsstaats, dessen Reform- und Ausdehnungsprozesse. Mehr Erklärung hätte an dieser Stelle der häufig verwendete Begriff des „wissenschaftsförmigen Wissens“ benötigt. Es stellt sich die Frage, welchen analytischen Mehrwert die Verwendung hat und von welchen anderen Wissensformen er sich damit abheben will. Die zentrale Fragestellung ist die nach der Entstehung, der Hierarchisierung und dem Austausch des Silikosewissens. Trabalski versucht darüber hinaus die Akteursvielfalt auf dem „weitgespannten Wissensfeld“ der Silikose gerecht zu werden, indem er „die vielschichtigen Akteursbeziehungen und komplexen Diskurs- und Praxisverschränkungen“ aufschlüsselt (S. 21).

Im ersten von vier inhaltlichen Kapiteln geht es um die öffentlichen Diskurse um die Staublunge. Untersucht werden Aspekte der sozialen wie politischen Mobilisierung des Wissens im Spannungsfeld von Öffentlichkeit, Experten und Bergleuten. Ausgangspunkt ist die institutionelle Neuordnung nach 1945. Grundsätzlich blieb die Struktur mit den Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung beibehalten. Es kam jedoch zu einem Demokratisierungsprozess und zur Ausweitung der Entschädigungspflicht für Berufskrankheiten, insbesondere nun auch für Silikosen in frühem Stadium. Überwiegend auf der Quellengrundlage von Zeitungsartikeln zeichnet das Kapitel zudem Diskussionen um die praktische Staubbekämpfung und eine gesundheitliche Überwachung nach. Leider versäumt es der Autor darzulegen, wie sein Quellenkorpus entstand. Da die Artikel nicht im Quellenverzeichnis aufgenommen sind, ist anzunehmen, dass sie aus einer Pressezusammenstellung aus den Akten stammen.

In den folgenden Debatten kristallisierte sich eine führende Rolle der Wissenschaft im Deutungskampf um die Silikose heraus. Expert:innen verschiedenster Fachdisziplinen suchten therapeutische, technische und präventive Antworten auf die vielen offenen Fragen um die Silikose. Auch wenn gegen die tödlich-verlaufende Krankheit kein Heilmittel gefunden wurde, entstand in der Öffentlichkeit das Bild des Sieges der Wissenschaft über die Silikose mit den Expert:innen als Held:innen. Als Endpunkt des Diskurses sieht Trabalski die Nähe zur aufkommenden Umweltdebatte, die angesichts der belasteten und belastenden Luft im Ruhrgebiet die Silikosegefahr aus dem öffentlichen Blickfeld drängte.

Nach dieser „diskursanalytische[n] Vogelperspektive“ (S. 82) widmet sich das nächste Kapitel der Wissensgenese und dem Wissenstransfer. In einem breiten Netzwerk von Unternehmen, Bergbehörden, Berufsgenossenschaften und Forschungseinrichtungen fanden ein reger Wissensaustausch und Erprobungen praktischer Anwendungen, wie etwa Inhalationsexperimente mit Kreide und Kalk, statt. Zudem kursierten Angebote von Heilmitteln wie Kräuterextrakte und Teetherapien, die teilweise von den Unternehmen aufgegriffen wurden. Als effektives Mittel stellte sich die medizinische Überwachung durch Röntgenaufnahmen als Frühwarnsystem heraus. In den Aushandlungsprozessen bildeten sich Hierarchisierungen von Wissen. Von einer anfänglichen Offenheit auch gegenüber Laienwissens kam es zu einer Dominanz des Experten:innenwissens.

In der betrieblichen Praxis, so zeigt das dritte Kapitel, bemühten sich die Unternehmen intensiv um präventive Lösungen. So errichteten sie „Gesundheitshäuser“, Inhalationsräume und ganze „Inhalationsstraßen“, die die Bergleute passieren mussten. Ein entscheidender Schritt in der Bekämpfung der Silikosegefahr gelang aber durch den „Siegeszug der Risikofaktoren“ (S. 154). Durch Staubmessungen und Berechnungen wurden statistische Modelle entwickelt, die Arbeitszeiten an belasteten Arbeitsplätzen einschränkten. Es kam zur Festsetzung von Staubbelastungsstufen und -dauern. Der Einsatz solcher probabilistischen Mittel wurde ab den 1960er-Jahren immer ausgefeilter, bis hin zur Nutzung von Computern. Trabalski kommt zu dem Schluss, dass der Problemkomplex Silikose Ende der 1960er-Jahre „weitgehend eingehegt“ war (S. 182). Den Bergleuten blieb in diesem technokratischen Regulierungsregime nur eine marginalisierte Stellung.

Im letzten inhaltlichen Kapitel finden ein Perspektivwechsel zu genau diesen Bergleuten statt. Es geht um individuelle Wahrnehmungen und Praktiken der Betroffenen – hauptsächlich aus der Entschädigungspraxis. In mehreren Fallbeispielen beschreibt Trabalski die versicherungsrechtlichen Hürden der Rentengewährung sowie die Bürden der pflegenden Angehörigen. Langdauernde Rentenprozesse und eine oft einseitige Begutachtungspraxis zuungunsten der Versicherten untergruben das Vertrauen in die Objektivität der Verfahren. Den Silikoseopfern gelang zwar eine individuelle Wissensaneignung versicherungsrechtlicher Themen, wie sie seit Bestehen der Unfallversicherung 1884 zu verschiedenen Themengebieten, wie etwa den Unfallneurosen, praktiziert wurde. Dagegen hatten die Berufsgenossenschaften durch ihren Wissensvorteil jedoch stets eine deutliche Machtposition.

Das Buch stellt mehr als nur einen Ausschnitt der Geschichte einer Berufskrankheit dar. Es zeigt sehr beeindruckend das Wechselverhältnis von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in der Genese von sozialer Sicherheit und Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die Entscheidung, nicht strikt chronologisch vorzugehen, sondern vier inhaltliche Komplexe zu beschreiben, erweist sich als sinnvoll. Die Akteursvielfalt ist so gut abbildet und zeigt, dass eine wissensgeschichtliche Annäherung an einen Untersuchungsgegenstand umso erkenntnisreicher wird, je mehr Perspektiven einbezogen werden. In einem durchweg stringent und spannend geschrieben Werk hält Trabalski sehr eindrücklich das Versprechen einer Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte.

Eine Frage beantwortet das Buch leider nicht: Warum ist in der vielfältigen Gedenkkultur des Bergbaus, die vor allem im Ruhrgebiet sehr lebendig ist, so wenig Platz für eine Krankheit, die weit mehr Opfer forderte als alle Grubenkatastrophen? Vielleicht ist das vorgestellt Buch selbst ein Teil der Antwort, weil es den vielen Opfern eine Stimme gibt und ihrer Bedeutung für die westdeutsche Nachkriegsgeschichte gerecht wird.

Anmerkungen:
1 Christian Schürmann, Die Regulierung der Silikose im Ruhrkohlenbergbau bis 1952. Staat, Unternehmen und die Gesundheit der Arbeiter, Wiesbaden 2011.
2 François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main 1986, S. 9.